Christkindl Straubinger

selben Bus wie ich heimfuhren, zur Haltestelle, stieg ein und freute mich, bald zu Hause he- rumtoben zu können. Das ver- kürzte die Zeit bis Weihnachten wenigstens gefühlt. Ein Schüler betrat das Fahrzeug, der für mich einem erwach- senen Mann gleichkam: ein Viert- klässler. Ich hatte so viel Respekt vor ihm, dass ich seinen Blicken immer auswich. Er saß in der hin- tersten Reihe, hörte mit seinem MP3-Player Musik und hatte auf seinem aufklappbaren Handy ein Game, das er uns spielen ließ. Im Bus war er der Älteste. Und so der Coolste, der alle Aufmerksamkeit von uns Jüngeren genoss. Irgendwann begann er, einigen ein „großes Geheimnis“ zu erzählen. Zu den Auserwählten gehörte ich nicht. Ich sah nur, wie ein Mitschüler nach dem anderen kreidebleich von der letzten Sitzbank zurück- schlich. Welche schockierende Nachricht hatten sie erfahren? Ich war verwirrt. „Was will er denn?“, fragte ich die anderen Kinder im Bus. Ich erhielt keine Antwort. „Das dürfen wir nicht weitersagen, das mussten wir versprechen!“ Mehr erfuhr ich nicht. Also be- schloss ich, den Viertklässler selbst anzuspre- chen. Eine große Überwindung. Dennoch: Die Neugier trieb mich. „Hallo! Darf ich dein Geheimnis auch erfahren?“ Ich stapfte nach hinten. „Hallo!“, ich schluckte. „Darf ich dein Geheimnis erfahren?“ Der Schüler entgegnete mit strenger Stimme: „Glaubst du noch ans Christkind?“ Mit so einer Frage hatte ich nicht gerechnet. Wie meint er das denn? Was soll das sein – „glauben“ ans Christkind? Ich blieb stumm. „Denkst du immer noch, dass dir das Christ- kind Geschenke bringt?“ Der Viertklässler klang genervt. Ich zögerte. „Ja, klar“, gab ich zu verstehen. „Dann geh!“, zischte er und wandte sich wieder dem Handy-Display zu. Ich verkroch mich auf meinen Platz. So eine Gemeinheit! Ich wurde vom coolsten Jungen im Bus abgewiesen. Das tat weh. Zumin- dest war ich nicht allein. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft gab wie ich zu verstehen, vom Christkind seine Weihnachtsgeschenke zu er- warten. Wie jedes Jahr. Wie doch alle. „Vielleicht ist das nur ein Witz“, meinte das Mädchen. Hm. Vielleicht. „Und nur, wer ihn versteht, darf das Geheimnis erfahren.“ Sie schlug vor, den Viertklässler noch mal zu fragen. Und diesmal eine andere Antwort zu geben. Auch wenn mich die Erklärung wenig überzeugte, war es einen Versuch wert. Wieder standen wir beide in der letzten Reihe. Wir hätten es uns anders überlegt, sagte ich zu dem zehn Zentimeter größeren Kerl. „Wir glauben, wir bekommen doch keine Geschenke vom Christkind.“ Der Viertklässler drehte sich zu uns. Er grinste, hielt seine Hand vor den Mund und kam an mein Ohr heran. Dann hörte ich, was ich nicht hätte hören wollen. Innerhalb von Sekunden löste sich der ganze 2005: Strahlende Kinder, die das Christkind beschert hat. Unser Autor in rotem Karo macht besonders große Augen. 22 Leben | STRAUBINGER

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