Straubinger - Christkind 2011

STRAUBINGER | Titel 7 I m Herbst, irgendwann nach dem 24. Sep- tember, an dem sie zum ersten Mal „Last Christmas“ im Radio spielen, weil Radio- moderatoren es kreativ finden, wenn sie am 24. September „Last Christmas“ spielen und dazu enthüllen, dass in genau drei Monaten Weihnachten ist – irgendwann also nach diesem Tag bin ich im kleinen Park an der Gabelsberger Straße. Ich sehe Fritz zu, meinem Lieblingseichhörnchen. Wie er geschäftig hin und her rennt über das bisschen Restgras, hier hinauf auf den Baum, dort wieder hinunter, sich dann kurz aufsetzt, zu mir herüberspäht und wieder weiterrennt: der kleine Fritz, sich für den Winter rüstend. Es ist eine Geschichte zu schreiben über den Winter. Sie soll romantisch sein, irgendwie kuschelig und mollig warm; eine Geschichte von dunklen Nächten voll heller Lichter, Kerzen und Glühwein; eine, die nach Bratäpfeln duftet und nach Behaglichkeit, derweil im Kamin ein Feuerchen prasselt und nebenan, in seinem Bettchen, ein kleines Mädchen von Weih- nachten träumt. Eine Geschichte, die knirscht von sattem Schnee, die bimmelt von silbernen Rentierschlittenglöcklein und in der kleine Wunder geschehen; und sei es nur, dass die Tigers endlich die Playoffs erreichen. Aber wer isst heute noch Bratäpfel? Und wären die Play- offs nicht ein sehr großes Wunder, zu groß für eine kleine Wintergeschichte? „Mach was“, sagt plötzlich der Fritz, „mach dich endlich nützlich. Schreib endlich die Winter- geschichte. Die Redaktion wartet.“ „Ich kann nicht“, sage ich, „Winter ist nicht mein Ding, ich bin kein Romantiker. Außerdem hab‘ ich eine Schreibblockade.“ Schreibblockade klingt sehr professionell, Kafka hatte auch eine und auch Dostojewski, und gerade dann, wenn Blätter fallen und Nebel steigen und den Stadtturm verschlucken, sind Schreibblockaden völlig normal. „Was für ein Schmarrn“, sagt der Fritz, „Du bist nicht Kafka, und Dostojewski war im Winter in Hochform. Du hast keine Schreib- blockade. Du hast nur keine Fantasie.“ Fritz ist manchmal grausam, das grausamste Lieb- lingseichhörnchen, das ich überhaupt kenne. Aber vomWinter verstehen Eichhörnchen viel. Beim ersten „Last Christmas“ legen sie los. Sie beginnen Kastanien zu sammeln, Nüsse und sehr viele Bucheckern. Wenn es dann frostig kalt wird, ist alles erledigt, dann haben sie Zeit für die Winterruhe. Zufrieden kuscheln sie eng aneinander in ihren Eichhörnchennes- tern und träumen von Weihnachten und rie- sigen Kastanien mit roten Schleifen und von Bucheckern mit richtigen Wachskerzlein da- rauf. Sie sind so anders als wir. „Immer minus, immer minus“ Wir jammern und klagen ja nur, wenn der Winter kommt. „Der Winter ist grausam“, sagt die Freundin, die man an der Kasse im Super- markt trifft, sie klingt deprimiert. „Zum Radl- fahren muss man jetzt Handschuhe anziehen“, sagt sie. Es ist ein Elend. „Winter ist grausam“, sagt auch der Giusto, der unter Palmen ge- boren ist am Lago di Garda und nun glücklich in Straubing ist, wenigstens meistens. Denn im Winter, da friert er. „Immer minus, immer minus“, sagt Giusto bekümmert, seine Daunen- jacke ist dick wie der Nebel im Donautal. Es ist deprimierend. Nur für denWilli ist das alles gar kein Problem. Wenn man sorgenzerfurcht durch den Gäu- bodenpark hastet, mit einer Flasche Rioja, weil diese Geschichte immer noch nicht ge- schrieben ist, ist plötzlich der Willi da, der liebste Kollege aus früheren Tagen, und sagt: Antarktis. „Antarktis“, hebt er träumerisch an, und er be- ginnt zu erzählen. Wie entsetzlich die Straubinger Sommer sind, wie schwül, heiß 

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