Straubinger - Christkindl 2012

10 Titel | STRAUBINGER die man bei Fledermaus-Führungen durch das Bergwerk bestaunen könne. „Der Winter hier“, sagte sie „ist faszinierend. Man kann so viel erleben, und mit etwas Glück hat man weiße Weihnachten und wird einfach durchgefüttert. Ehrlich, ich liebe das.“ „Das ist nicht gut“, wandte ich ein, „es ist gegen die Natur. Denn ihr seid Zugvögel.“ Das sei ihr egal, sagte Tanja, es sei ihre Chance, endlich einmal weiße Weihnachten zu erleben, und überhaupt seien in England schon längst alle Mönchsgrasmücken zu Standvögeln ge- worden, weil die Engländer schon seit Jahren Meisenknödel aufhingen aufTeufel komm raus, und England habe immer schon Großes ge- leistet, wenn auch nicht unbedingt im Fußball. „Ihr werdet freiwillig Sozialhilfeempfänger!“ Das ist nun tatsächlich so. Erst kürzlich hatte ich darüber gelesen, „die große Zahl an füt- ternden Vogelfreunden erleichtert ihnen den Aufenthalt auf den Britischen Inseln“, hatte ich gelesen, und dass sie dort bereits klei- nere Flügel hätten, mit denen man nicht mehr so weit fliegen könne, und auch, dass die Schnäbel enger seien, eine Anpassung an die Winterfütterung durch Menschen. Kann so etwas richtig sein? „Ihr seid nicht mehr in der Lage, euch selbst zu ernähren!“, rief ich einen Tick zu laut, „angewiesen darauf, dass man euch Meisenknödel und anderes Zeugs vor den Schnabel hängt! Ihr werdet freiwillig So- zialhilfeempfänger! Nein, das kann nicht richtig sein!“ „Och“, sagte sie, „das waren wir immer schon“ und zitierte aus der Bergpredigt: „Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ Jeder Vogel kennt diese Stelle, nehme ich an, und es gibt wenig, was man dagegen einwenden könnte, außer viel- leicht, dass, wenn die Menschen irgendwann aufhören mit der Fütterei, man ganz schön dumm dasteht und wegen der kleineren Flügel nicht mehr nach Spanien kann, und dann hilft dir die Bergpredigt gar nichts. „Mir doch egal“, sagte Tanja, „dafür hab‘ ich Weihnachten“, es klang ein klein bisschen trotzig. Dann hob sie ab und flog ganz nah an den beiden Katzen vorbei, die noch immer am Fenster saßen. Ich hatte den Eindruck, dass sie noch eine Spur gieriger schauten als vorher, aber ich will nichts unterstellen. Und im Vorbei- flug flötete sie ein altes Kinderlied, fulminant, aber honigsüß, und mit einem Forte am Ende: „A, B, C, die Katze lief im Schnee, und als sie dann nach Hause kam, da hatt‘ sie weiße Stiefel an, o jemine, o je, die Katze lief im Schnee.“ Und das mit dem Rauchen auf dem Balkon hätte ich vielleicht nicht erwähnen sollen. Iris wird schimpfen, befürchte ich, aber nun ist es zu spät. Und dass das alles vollkommen wahr ist, erkennt man daran, dass auf meiner Balkonbrüstung jetzt ein kleines Häuflein ver- dauter Rosinen liegt.

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