Straubinger - Frühjahr 2012

STRAUBINGER | Titel 7 6 Titel | STRAUBINGER E igentlich wollten wir nur kurz vorbei- schauen in der Stadtgärtnerei, nur schnell nachschauen, wie sie dort fleißig sind. Man stellt sich das ja so schön vor, wie sie die tiefblauen Veilchen hegen und die goldgelben Narzissen pflegen, die sie dann einpflanzen in die vielen Beete der Stadt. Nur schnell einmal fragen, wie rot der Mohn heuer wird und ob’s auch Modefarben gibt, so wie in der Haute Couture, dort sind in diesem Frühling ja Ap- ricot, Mint, Flieder und Citrus angesagt. Aber dann hat Stadtgärtner Jörg Bär zufällig ein irri- tierendes Wort gesagt: „Gartenflüchtlinge“, hat er gesagt. Seitdem müssen wir sagen: Bitte, machen wir uns nichts vor, aber Frühling ist eine besorgniserregende Zeit. „Beim nächsten Windhauch, da brechen wir aus!“ Weiß jemand, was gerade in unseren Gärten los ist? Wie es dort zugeht, jetzt, gerade in diesem Moment? Wie dort die Goldruten ihre bald goldigen Blütenköpflein zusammen- stecken und geheimnisvoll tuscheln? Und was der Kaukasische Bärenklau plant? „Beim nächsten Windhauch, da brechen wir aus!“ so tuscheln die Goldruten, „dann geht’s ab an den Allachbach!“ Und der Kaukasische Bärenklau, auch er schmiedet Fluchtpläne. „Ich flüchte von hier“, nuschelt er vor sich hin, „irgendwo hin an einen Straßenrand, dort breite ich mich dann aus, denn überall ist es besser als hier!“ So tuscheln und nuscheln sie jetzt, kaum dass es wärmer wird, und das Indische Springkraut ist auch nicht viel besser: „Raus aus dem Garten! In die freie Natur! Und wenn dort ein Farn ist, dann verjagen wir den!“ Sie packen ihre sehr vielen Samen zusammen und dann hauen sie ab. SeltsameWesen, diese Pflanzen: Sie haben einen Garten und flüchten daraus. Das ist nicht leicht zu verstehen, besonders im Frühling nicht. Gerade von Pflanzen hofft man ja eigentlich, dass sie jetzt Wurzeln schlagen und eben nicht flüchten. Schon gar nicht aus einem Garten. Unsereiner ist ja schon froh, wenn er überhaupt einen Balkon hat. Dort kann man ab sofort immer spätnachmittags sitzen, an seinem Aperol sauer nippen und über allerlei nachdenken. Über Goldruten zum Beispiel, diese undankbaren Geschöpfe, die sogar einen Garten haben, aus dem sie aber flüchten. Was soll man halten von solchen Pflanzen? Warum tun sie denn das? Und: Wie stellen die das überhaupt an? Gut, beim Kaukasischen Bärenklau ist es relativ klar: Einer, der ganze Bären klaut, muss ja mobil sein. Außerdem wird er drei bis vier Meter groß und nicht umsonst nennt man ihn auch Herkuleskraut. Mühelos bricht so ein Herkules jedes Gartentor auf, spaziert einfach hinaus, und wehe dem, der ihm zu nahe kommt: dem bringt er üble Verbrennungen bei. 2008 wurde der Bärenklau deshalb sogar zur Giftpflanze des Jahres gewählt, im Botanischen Sondergarten in Hamburg-Wandsbek. Nein, mit so einem Burschen legt man sich besser nicht an. Auch beim Indischen Springkraut ist der Fluchtweg nicht schwer zu erraten: Es springt einfach über den Zaun und dann läuft es weg. Aber die Gold- ruten? Wie schaffen die das? Huschen sie nachts, wenn alles schläft, bis dicht an den Gartenzaun? Machen sie dort, ihre Zweiglein fest ineinander verschränkend, eine Räuberleiter? Und dann, wenn für einen Moment den silbernen Mond eine Wolke verdunkelt: kraxeln sie dann einfach hinüber, eine nach der anderen, und die letzte Goldrute ziehen sie ganz einfach rüber?  G oldruten und andere G artenflüchtlinge VonWolfgang Engel

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